"Als Mensch kreuzen wir den Horizont, stehen damit zwischen Himmel und Erde, berühren in uns das sowohl Äußere, Sichtbare und Materielle wie auch das innere Unsichtbare und Immaterielle. Dieses Geheimnis unseres Lebens berührt mich seit den 90-er Jahren. Meine erste Einzelausstellung in der Lände 2008 trug daher den entsprechenden Titel" Ansichten- Einsichten" Die dabei ausgestellten Bildzyklen wie" Wegsuche" "der Raum öffnet sich", "Horizont" und "Kreuzmeditation" vertieften und erweiterten sich in der Folge. So lassen sich die seither entstandenen und in der kommenden Ausstellung gezeigten Arbeiten in acht verschiedene "Spuren" zwischen der Außenwelt und der Innenwelt einteilen:
"Licht spüren, Zeichnung wird zum Zeichen, Menschwerdung, die Landschaft in uns, Horizont und Wegsuche, der innere Raum, das Kreuz und die Durchkreuzung, der Geist durchweht uns".
In der Suche nach einem zusammenfassenden Hauptthema für diese Zyklen habe ich den Begriff "Wahrnehmung" gewählt. In ihm verbinden sich Äußeres und Inneres. Alles Gesehene oder Erlebte nehmen wir über unsere Sinne auf, verweben es mit den in unserem Inneren bereits gespeicherten Vorstellungen, Gedanken und Empfindungen und formen daraus unsere ganz eigene persönliche Wahrnehmung. Was wir äußerlich über unsere Sinne aufnehmen trägt mithin zugleich eine eigen Tiefenebene, die in uns klingt, die uns befragt und die wir befragen können. "Das Äußere ist das in einem geheimnisvollen Zustand befindliche Innere " formulierte treffend der Schriftsteller und Philosoph Novalis. Diese Sichtweise begleitet mich durch all mein Tun und erfüllt mich immer wieder mit einer großen Neugierde auf das Geheimnis unseres Daseins.
Der ergänzende Begriff "barfuß den Grund berühren" will den Prozess des Wahrnehmens umschreiben, das Tasten und wirklich Grund spüren ohne schützende Socken und Schuhen. Dieses "Hinabsteigen auf den eigenen Grund" ist mit einer suchenden und fragenden Ungewissheit verbunden wie auch mit einer ganz eigenen Spannung. Es ist das Hineinspüren in die Schatzkiste in mir. Nur "barfuß" und behutsam kann hier versucht werden, den Grund zu ertasten. So sind meine Bilder weitgehend Ergebnisse dieses "barfüßigen Grund-Berührens" und vor allem des anschließenden Versuches, diesen inneren Empfindungen in Bildform eine Gestalt zu geben, sie materiell spürbar und nachvollziehbar werden zu lassen.
Bei dieser schöpferischen Arbeit ist die Linie für mich nach wie vor das bestimmende Element. Mit ihr kann die Hand wie ein Seismograph auf das innere Empfinden antworten, kann das Gegenständliche erfassen, sich tastend, suchend und neugierig vom Sichtbaren lösen und dann die eigene Form entdecken. Gleichzeitig jedoch gewann in meinem Tun seit ca. 15 Jahren die Farbe eine immer größere Bedeutung. Oft steht sie am Beginn aller Gestaltfindung, oft dient sie beim Klang- und Formfinden. All das gezielte Wahrnehmen beinhaltet Haltmachen, Konzentrieren auf das Wesentliche, Verdichten, wo erforderlich, Weglassen und freien Raum als Gegenbild schaffen, Linie setzen und Flächen, Kratzen, Collagieren, Linie und Farbe miteinander wirken lassen.
Ein Jeder, eine Jede wird im Betrachten und im Dialog mit den Arbeiten seine eigene Bildwelt entdecken und damit auch den eigenen Weg auf seinen Grund."
Hagen Binder